Leseprobe

Heute wird ein sonniger Tag werden. Man kann es schon an der Luft riechen. Ich werde Mutter nach draußen auf die Terrasse helfen und die Markise herunterdrehen, denkt Ulrike. Eben hat sie noch einen Blick in das Zimmer der Mutter geworfen – sie schläft noch. Vergangene Nacht ist eine gute Nacht gewesen. Sie hat keine Schreie aus Rosemaries Zimmer gehört. Ulrike wird bewusst, dass sie nur allzu oft dem Schlafrhythmus einer jungen Mutter unterworfen ist. Aber ihre Kinder sind bereits erwachsen und führen ihr eigenes Leben und ihre Mutter ist – Mama ist…

Sind es Schmerzen, die sie nachts schreien lassen oder sind es schlimme Erinnerungen, die aus ihrem Unterbewusstsein kriechen? Ulrike eilt dann in das Zimmer ihrer Mutter, um die aufgelöste, alte Frau zu beruhigen. Manchmal wiegt sie Rosemarie wie ein Kind in ihren Armen. Dann beruhigt sich die Mutter.Es ist schwierig, ja Ulrike bisher unmöglich gewesen, den Grund dieser nächtlichen Zustände zu verstehen. Am nächsten Morgen ist alles wieder vergessen und Rosemarie scheint keine Erinnerung an die Nacht zu haben. Auch der Hausarzt kann keinen direkten Grund für Schmerzen finden.

Seit einem Schlaganfall kann ihre Mutter kaum noch sprechen. Für kleine alltägliche Dinge haben die beiden Frauen ihre eigene einfache Zeichensprache erfunden. Gibt es etwas Wichtigeres zu besprechen, deutet Rosemarie auf Papier und Stift. Viel ist es nicht, was sie noch schreiben kann – ihre Hand zittert zu sehr. Wenn Ulrike versucht, Rosemarie nach den Schreien in der Nacht zu fragen, erhält sie einen verdutzten Ausdruck auf dem Gesicht der Frau als Antwort. Manchmal zeichnet sie auch ein Fragezeichen in die Luft.

Drängt dann Ulrike noch weiter in Rosemarie, wird ihre Mutter zunehmend verwirrter und wirkt schließlich ängstlich. Daher verstummen Ulrikes Fragen. Nur nach besonders schlimmen Nächten nimmt sie am nächsten Morgen noch einmal einen Anlauf, der jedoch ebenso erfolglos verläuft. Ulrike ist sich nicht sicher, ob sich ihre Mutter tatsächlich nicht an die Nacht erinnern kann oder ob sie ihre Tochter nicht mit etwas belasten will. Vielleicht mit dem, was sie zum Schreien bringt?