Leseprobe

Der Wind fährt durch meine Haare. Den salzigen Duft des Ozeans ziehe ich genussvoll in die Nase. Ich bin noch nie am Meer gewesen, gehtmir durch den Kopf. Zusammen mit vielen anderen Menschen warte ich darauf, das französische Festland zu verlassen und auf
die Insel zu fahren. Meine Hände überprüfen noch einmal das Vorhandensein der Bordkarte, streifen über das glatte Papier der Informationsbroschüre. Eigentlich ist das, was ich als Meer empfnde, ein Kanal und an seiner schmalsten Stelle nur 34 km breit.
Ich kann mich kaum erinnern, wann ich das letzte Mal gereist bin. Es war noch während der Schulzeit, eine Klassenfahrt nach Straßburg.
Und nun bin ich auf dem Weg in seine Heimat. Ich werde seine Eltern kennen lernen, seinen alten Weg zur Schule, seinen Lieblingsplatz unter dem bestimmten Apfelbaum. Ein wenig fürchte
ich mich vor diesen Erlebnissen. Obwohl ich sie mir gewiss tausend Mal vorgestellt habe, natürlich unter völlig anderen Voraussetzungen. Es wird anders sein als in meinen Träumen, aber ist es das nicht immer? Da kommt Bewegung in die Menschenschlange. »Votre billet s’il vous plaît, Madame!« Es geht los.

Ah, was für eine Aufregung. London wollte ich schon immer einmal sehen, aber nun, da ich hier bin, ist es schon eine Herausforderung, den Zug zu wechseln! So viele Menschen,
einfach unglaublich! Es ist geschafft, nun sitze ich im halb leeren Abteil und mein Gepäck ist gut verstaut. Mein Buch von E.T.A. Hoffmann liegt unaufgeschlagen auf meinem Schoß.
Alles ist so neu und spannend, dass ich vorerst keine Geduld zum Lesen aufbringen kann. Die Landschaf sieht anders aus als in Deutschland. Ich versuche, jeden Eindruck in mich aufzunehmen und nicht an ihn oder an die bevorstehenden Ereignisse zu denken. Dazu stelle ich mir vor, dass ich auf Studienreise bin. Es gilt, die Küstenstädte von Mittelengland zu
bereisen und Schätze der Grafschaf Lancashire zu entdecken.
Meine beiden Mitreisenden nehme ich kaum wahr, bis der ältere Herr mich anspricht.
»Are you from Germany?«
Ich habe das Gefühl, bei etwas Verbotenem ertappt worden zu sein, und werde rot. Da ich nicht gleich antworten kann, deutet er auf mein Buch.
»›Der goldene Topf‹. It’s German, isn’t it?«
Erleichtert nicke ich. »Yes. Do you speak German?«
»Well, a little. I had some German courses many years ago, in college. Ich spreche Deutsch nicht sehr gut«, fügt er lächelnd mit einem angenehmen Akzent hinzu. Nun fühle ich mich etwas sicherer und erwidere sein Lächeln. Mein Mitreisender scheint weniger reserviert gegenüber
Deutschen zu sein, als ich es gewohnt bin.
»So you are here for a holiday?« Es scheint mehr eine Aussage als eine Frage zu sein.
»Yes. I am going to visit friends.«
»Ah, I see. Have you been to England before?«
Ich erwidere mit einem schlichten »No.«